Formen und Verbreitung
Formen und Verbreitung
Fastnacht ist ein jährlich wiederkehrendes, ausgelassen gefeiertes Traditionsfest, das allein im deutschsprachigen Raum in hunderten von Städten und Gemeinden Zehntausende von Akteuren mobilisiert und Millionen von Zuschauern anlockt. Der Fastnachtstermin liegt in der siebten Woche vor dem beweglichen Osterfest, dessen Datum auf den Sonntag nach dem Frühlingsvollmond festgelegt ist und das deshalb bis zu 35 Tage schwanken kann (eine Mondphase von 28 Tagen plus maximal 7 weitere Tage). Der Dienstag vor dem Aschermittwoch, mit dem die mehrtägigen Festivitäten der Fastnacht enden, kann demnach frühestens auf den 3. Februar und spätestens auf den 9. März fallen.
Das wichtigste Brauchelement der Fastnacht sind große Straßenumzüge, bei denen die Akteure entweder als Maskenträger völlig unkenntlich auftreten oder durch Kostümierung ihr Äußeres verändern. Die emotionalen Kräfte des Festes liegen in seinem Überschwang, in der Stiftung von Gemeinschaft und in der Erzeugung einer Grundstimmung, die von Fröhlichkeit und Lachen geprägt ist. Aus soziologischer Sicht kennzeichnen die Fastnacht vier Merkmale: das Spiel mit der Identität, die Wendung des Ernsten ins Komische, die Inszenierung einer verkehrten Welt und die temporäre Außerkraftsetzung des Alltags. Gebiete mit besonders langer und dichter Fastnachtstradition sind im deutschen Sprachraum Süddeutschland, speziell der Südwesten, die nördliche Schweiz und Tirol wie auch das Rheinland vom Mittel bis zum Niederrhein.
Süddeutsche Form: Masken und Vermummung
Schellnarren in Wellendingen, Foto: Ralf Siegele, www.ralfsiegele.de
Das Charakteristikum der Fastnacht in Süd- und vor allem in Südwestdeutschland ist die absolute Anonymität der Akteure durch Vollmaskierung. Deren Formen reichen beispielsweise in den Traditionsorten des schwäbisch-alemannischen Raums vereinzelt bis ins 17. Jahrhundert zurück. Hoch entwickelt ist hier die Kunst des Maskenschnitzens, aber auch der Herstellung der Gewänder, die mundartlich als „Häs“ bezeichnet werden. In der Straßenfastnacht sind in Südwestdeutschland und in Tirol übrigens nur die Brauchträger selber vermummt, während die Zuschauer unverkleidet bleiben oder sich allenfalls ganz dezent kostümieren. Maskierte Zuschauer, die den Akteuren quasi Konkurrenz machen, gelten als tabu.
Katholische Wurzeln und Konfessionalität
Aulendorfer Eckhexen, Foto: Ralf Siegele, www.ralfsiegele.de
Die Benennung der närrischen Tage, die gerne auch als „fünfte Jahreszeit“ bezeichnet werden, variiert je nach Region. So hat sich in Südwestdeutschland, der Schweiz und Tirol das schriftsprachlich korrekte „Fastnacht“, das die „Nacht vor dem Fasten“ meint, mundartlich zu „Fasnacht“ oder „Fasnet“, vereinzelt auch zu „Fasent“ verschliffen. Im Bayerischen und in den österreichischen Bundesländern außer Tirol wird der Begriff „Fasching“ verwendet, abgeleitet von „Vastschank“, dem Ausschenken eines Fastengetränks. Was die geographische Verbreitung betrifft, so liegen die Fastnachtsorte mit der längsten Tradition in den Gebieten, die nach der Reformation katholisch geblieben sind. In evangelischen Territorien erlosch die Fastnacht, soweit sie nicht wie etwa in Nürnberg formell verboten wurde, spätestens ab den 1540er Jahren, weil sie durch die reformierte Theologie ihren Sinn verlor. Heute hat sich die Fastnacht weitgehend von der Konfessionskarte gelöst und wird nach zahlreichen Neugründungen von Zünften und Vereinen auch in ehemals protestantischen Gebieten gefeiert.
Ganz anders als in Süd- und Südwestdeutschland werden die „tollen Tage“ im rheinischen Raum begangen. Dort feiert man Karneval. Diese Festform unterscheidet sich von der stark ritualisierten süddeutschen Fastnacht durch eine viel sichtbarer zu Schau getragene Fröhlichkeit und Lockerheit, was nicht zuletzt dadurch gefördert wird, dass der Karneval die Vollmaskierung nicht kennt. Neben einer Fülle freier Kostümierungen prägen das Bild hier geschlossen auftretende Garden, Korps und Tanzgruppen in historischen Militäruniformen, unter freiem Himmel begleitet durch aufwändige Motiv- und Bagagewagen, von denen tonnenweise Süßigkeiten und Blumen ausgeworfen werden. Höhepunkt des Geschehens sind die prunkvollen Rosenmontagszüge, der größte in Köln vor einer Million Zuschauern, die sich ihrerseits verkleiden, wobei im einfachsten Fall bereits eine rote Pappnase genügt, um dem Ernst des Alltags zu entkommen. Neben dem Straßenkarneval spielt im Rheinland der Sitzungskarneval eine große Rolle, der schon Wochen vor dem eigentlichen Festtermin Säle und Kneipen füllt.
Der Karneval rheinischer Prägung ist eine erst in den 1820er-Jahren entstandene Feierform, die aus dem davor üblichen, in der Aufklärung als nicht mehr zeitgemäß angesehenen Mummenschanz, zu dem übrigens auch im Rheinland die Unkenntlichkeit der Akteure durch Gesichtsmasken gehört hatte, ein bürgerlich-gesittetes Fest machte. In diesem vom Geist der Romantik geprägten Veredelungsprozess spielte die Stadt Köln eine Schlüsselrolle. Die der Zeitmode entsprechende Sammelbezeichnung Karneval stammt aus dem Italienischen und geht auf das lateinische „carnis levamen = Wegnahme des Fleisches“ zurück, bezieht sich also ebenfalls auf den Fastenbeginn ab Aschermittwoch. Neben dem Wort „Karneval“ aber leben im Rheinland bis heute auch noch die alten deutschen Namen des Festes fort: mittelrheinisch „Fassenacht“ und niederrheinisch „Fastelaer“ oder „Fastelovend“, Vorabend des Fastens. Rheinischer Karneval und süddeutsche Fastnacht sind kein Gegensatz, sondern lediglich zwei verschiedene Ausprägungen des gleichen Brauchkerns.
Fastnacht und Karneval gibt es keineswegs nur im deutschen Sprachraum. Ganz ähnliche Traditionsformen finden sich in über 20 Ländern Europas in unterschiedlicher Dichte. Gemeinsam ist ihnen allen die Funktion eines letzten Auslebens vor dem Beginn der österlichen Fastenzeit, also die Verankerung im christlichen Jahreslauf. Viele der einschlägigen Bräuche gleichen dem archaisch wirkenden Mummenschanz der südwestdeutschen Fasnet, andere sind ähnlich wie im Rheinland karnevalesk modernisiert. Besonders intensiv wird in Italien und Spanien gefeiert. Aber auch Südfrankreich, Belgien, Ostmittel- und Südosteuropa, Griechenland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, ja selbst England kennen entsprechende Traditionen. Über die Kolonialmächte gelangte Fastnacht sogar nach Übersee, wo in Lateinamerika heute vor allem Rio de Janeiro und in Nordamerika New Orleans Hochburgen sind.
Europäisches Kulturerbe
Bilderreihe Europäisches Kulturerbe, Fotos: Ralf Siegele, www.ralfsiegele.de