Gretele und Alte Jungfer ‒ Tracht und Mode in der Fastnacht

 

Gretele und Alte Jungfer ‒ Tracht und Mode in der Fastnacht

Tracht und Mode als Reservoir fastnächtlicher Kostümierung? ‒ Hieran scheiden bis heute die Geister. Nach der Aufhebung der ständischen Kleiderordnungen und mit der beginnenden Industrialisierung schwand während des 19. Jahrhunderts die Akzeptanz der (ländlichen) Bekleidungsnormen, was die Verwendung veralteter Trachtenelemente in Fastnachtskostümen begünstigte. Parallel dazu entwickelte sich das kulturgeschichtliche Interesse an den sog. Volkstrachten, das bis in die Gegenwart als Trachtenpflege fortbesteht.

Die Alt-Stockacherin ist eine Neuschöpfung der Jahre 1933/34. Ihre Entstehung stellt die kreative Reaktion auf das im Februar 1933 in Stockach veranstaltete Große Narrentreffen der VSAN dar, bei dem sich zahlreiche Trachtenträgerinnen anderer Fastnachtszünfte präsentierten. In bewusster Abgrenzung wurde in Stockach auf eine bürgerliche Festtagstracht der vorderösterreichischen (Bodensee-)Städte zurückgegriffen, deren auffälligstes Merkmal die goldspitzenbesetzte Radhaube ist. Die übrige Kleidung entspricht den Modevorstellungen des Biedermeier.

Auf der Baar, in Donaueschingen, Geisingen und Hüfingen, sind das Hansele (ein Weißnarr) und sein Gretele in ländlicher, dunkler Festtagstracht mit Bänderhaube unverwechselbare Fastnachtsfiguren. Die Immendinger Strumpfkugler-Zunft beschritt bei der Vorstellung ihres Greteles in der Fastnacht 1954 neue Wege. Anders als bei den älteren Schwestern gehört zur Figur ein farbenfrohes Trachtenkleid mit einem hohen Strohzylinder, eine modische Reminiszenz an die im 19. Jahrhundert im Schwarzwald verbreitete Strohflechterei. Ansonsten zeigt sich das Immendinger Gretele auf unserem Bild als typische Vertreterin der Heimatbewegung der1950er-Jahre.

Während die bäuerlichen und bürgerlichen Trachtenträgerinnen „brave“ Begleitfiguren verkörpern, finden sich in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht auch subversive Elemente der rheinischen Weiberfastnacht. In Waldkirch, Überlingen oder Wolfach treten vermehrt selbstbewusste Frauen als „Alte Jungfern“, „Alte Wieber“ oder „Kaffeetanten“ in Erscheinung. Im eleganten Retrostil ‒ bevorzugt wird die Damenmode des ausgehenden 19. Jahrunderts ‒ feiern sie ihre Fastnacht ohne männliche Begleitung.

All diese Formen der Kostümierung ermöglichen es Frauen, an der Fastnacht teilzunehmen, ohne in das ursprünglichen den Männern vorbehaltene Häs schlüpfen zu müssen.

Das Hohe und Grobgünstige Narrengericht Stockach: Alt-Stockacherinnen

Narrenzunft Strumpfkugler Immendingen: Hansele und Gretele (nach 1954)

Narrenzunft Krakeelia Waldkirch: Alte Jungfern (1996)

Bildnachweise: Zentralarchiv der VSAN

2024-01-22T08:25:17+01:0010. Juni 2022|

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